Cannabis in der Schmerztherapie
Das Wichtigste in Kürze
In diesem Artikel lesen Sie, wie Cannabis als Medizin in der Schmerztherapie in Deutschland bisher Fuß gefasst hat und welche Patienten von einer Add-on-Therapie mit Cannabinoiden profitieren können. Wir beschreiben, wie der Weg von schwerkranken Patienten zu einer erfolgversprechenden Therapie mit medizinischem Cannabis in der Praxis aussehen kann. Weiterhin sind die Hintergründe zur Chronifizierung des Schmerzes und der Aufbau eines individuellen Therapiekonzeptes hinsichtlich der aktiven Mitarbeit des Patienten an den Therapiezielen wichtige Elemente im Arzt-Patienten-Gespräch.
Sie erfahren außerdem, welchen Stellenwert Good Medical Practice gerade im Kontext mit der Cannabistherapie hat. In der Cannabis Expertensprechstunde geben Angelika Hilker und Norbert Schürmann regelmäßig Auskunft und Hilfestellung rund um das Thema Cannabis als Medizin. Die beiden Schmerzspezialisten geben wertvolle Tipps basierend auf eigener jahrelanger Praxiserfahrung, wie Ärzte im Praxisalltag die Versorgung von Patienten mit medizinischem Cannabis von der Antragstellung bis zur dauerhaften Therapiebegleitung managen können. Bereits häufig gestellte Fragen haben wir in einem FAQ zusammengestellt.
📖 Inhalt
- Wenn die Standardtherapie nicht ausreicht: Cannabinoide können helfen!
- Cannabinoide sind eine gut akzeptierte Zusatztherapie
- Einfache Patientengespräche ohne Begriffswirrwarr
- Chronische Schmerzen werden durch Angst verstärkt oder ausgelöst
- Die Chronifizierung des Schmerzes – ein multifaktorieller Vorgang
- Das Schmerzgedächtnis ist nicht löschbar
- Good Medical Practice ergänzt evidenzbasierte Medizin
- Stellenwert von Cannabis in der Palliativmedizin
- Expertensprechstunde Cannabis mit FAQ
Wenn die Standardtherapie nicht ausreicht: Cannabinoide können helfen!
In Deutschland leiden 12 Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen. Zu den häufigsten Krankheitsbildern gehören Rücken- und Kopfschmerzen, gefolgt von Nervenschmerzen und Tumorschmerzen. Nach der Standarttherapie austherapierte chronisch kranke Schmerzpatienten leiden tagtäglich unter ihrem Zustand. Sie bekommen Depressionen oder sogar psychische Probleme, was nicht selten zu Arbeitsausfällen und Frühberentung führt. Schmerzfrei sind sie fast nie. Manche Patienten geraten in ihrer Verzweiflung in ein Ärztehopping, ohne dass beteiligte Ärzte davon wissen. Die häufige Maßnahme, die tägliche Opioiddosis in Verbindung mit der zusätzlichen Einnahme von nicht retardiertem Opioid im Bedarfsfall zu senken, ist nicht zwingend von Erfolg gekrönt.
Seit 2017 haben Menschen mit starken Schmerzen in Deutschland, wenn die Standarttherapie ausgeschöpft ist, aber keine ausreichende Besserung eintritt oder nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten, das Recht auf eine Cannabistherapie. Entschließt sich der Patient nach eingehender ärztlicher Beratung zu einer Therapie mit Cannabinoiden, muss der verordnende Arzt vor der ersten Verordnung einen individualisierten Antrag bei der Krankenkasse stellen. Nach der Genehmigung einer Erstverordnung nach §31 Abs 6 SGB V unterliegt jede weitere Verordnung der Therapiehoheit des behandelnden Arztes. Es besteht also für den Versicherten keine Pflicht, nochmals einen Antrag zu stellen.

Wenn Standardtherapien versagen und das Outcome unter angepasster Medikation sogar weiter verschlechtert, breitet sich im Behandlungsverlauf auf Arzt- und Patientenseite zunehmend Frustration aus. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Möglichkeit einer Add-on-Therapie mit medizinischem Cannabis mit dem verzweifelten Patienten diskutiert werden.
Cannabinoide sind eine gut akzeptierte Zusatztherapie
In Deutschland werden derzeit etwa 80.000 Patienten mit Cannabis als Medizin versorgt. Cannabinoide werden mit dem heute verfügbarem Wissen aus Literatur und Praxis zukünftig ein wichtiger Therapiebaustein sein, der sogar das Potential zu großen Einsparungen im Gesundheitssystem mit sich bringen kann. Modelle zur Versorgung werden aktuell evaluiert, um letztendlich eine leitliniengerechte Therapie deutschlandweit zur Verfügung zu haben. Obwohl einige Indikationen wie Migräne oder psychiatrische Erkrankungen aus Gründen fehlender Evidenz und Erfahrung bisher keine therapeutische Empfehlung haben, so ist die Behandlung von chronischen Schmerzen mit Cannabinoiden, wenn alle Standardtherapien ausgeschöpft sind, eine gut akzeptierte Zusatztherapie.
Einfache Patientengespräche ohne Begriffswirrwarr
Patientenedukation ist der Schlüssel, um den Betroffenen selbst und deren Angehörige bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen und neben den etablierten Therapien auch über den möglichen Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerztherapie zu informieren. Der Patient soll verstehen, dass er ein chronisches Schmerzleiden hat. Das bringt Klarheit und unterbindet zunehmende Frustration. Einfache Gespräche ohne Begriffswirrwarr sind eine geeignete Maßnahme, um den Patienten über alle schmerzmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. So kann das Risiko minimiert werden, dass Patienten falsche oder gefährliche Informationen über nicht valide Quellen einholen. Das bedeutet nicht zwingend einen erhöhten Beratungsaufwand, sondern diesen zu vereinfachen und smart zu gestalten. Die Prämisse ist, dass der Schmerz das eigentliche Problem darstellt, auch wenn er anfänglich lediglich als Symptom aufgetreten sein mag.
Es hat sich bewährt, die Bausteine des individuellen Therapiekonzeptes für den Patienten in einer kleinen Skizze bildlich darzustellen. Die Therapieanteile können beispielsweise in Form von Tortenstücken einer „Schmerztorte“ aufgezeichnet werden. Die Wissensvermittlung ist für Patienten mit chronischen Schmerzen von immenser Bedeutung und signalisiert ihnen, dass sie mit ihrem Leiden ernst genommen werden. An dieser Stelle muss allerdings auch klar besprochen werden, dass sich messbare und langfristige Erfolge nur mit ausreichend Eigeninitiative des Patienten einstellen werden. Einige Tortenstücke werden deshalb mit Therapieanteilen gefüllt, die der Patient selbständig durchführen muss. Unrealistische und überzogene Therapieziele sind fehl am Platz.

Neben der konkreten Schmerzlinderung können eine verbesserte Lebensqualität, bessere Beweglichkeit und geringere vegetative Symptomatik bereits realistische Ziele darstellen. Beim Einsatz von Cannabinoiden können die Patienten als willkommenen Begleiteffekt auch eine Wirkung gegen Angststörungen erwarten.
Chronische Schmerzen werden durch Angst verstärkt oder ausgelöst
Die Mehrzahl der Patienten mit chronischen Schmerzen haben eine jahrelange Leidensgeschichte. Dabei spielt eine antizipatorische Angst eine große Rolle. Die Patienten befürchten, dass unter einer Schmerztherapie keine Besserung eintritt oder die Schmerzen immer wieder zurückkommen werden. Generell kann Angst den Schmerz nicht nur verstärken, sondern auch auslösen – ein regelrechter Teufelskreis aus Schmerz und Angst gefolgt von Passivität entsteht.
Die Chronifizierung des Schmerzes – ein multifaktorieller Vorgang
Ein Schmerz erzeugt an den Nozizeptoren Nervenimpulse, die zum Rückenmark und weiter zum Thalamus geleitet werden. Die zentralnervöse Verarbeitung von neuralen Schmerzinformationen umfasst Vorgänge, von denen nur ein Teil die Bewusstseinsebene erreicht. Unbewusste und bewusste Vorgänge können das Nervensystem modulieren. Diese Veränderungen manifestieren sich molekularbiologisch und klinisch. Das ist Neuroplastizität. Durch wiederholte Schmerzerfahrungen prägt sich der Schmerz im Gehirn ein. Dabei kommt es zu einer dauerhaften Potenzierung der synaptischen Übertragung von Schmerzinformationen. Langanhaltende Sensibilisierungen und schmerzverstärkende Fehlfunktionen des Nervensystems können die Folge sein. Nozizeptive Rezeptoren reagieren jetzt viel empfindlicher auf Schmerzreize. Schließlich kann es zu einer Allodynie, Hyperalgesie oder spontan auftretenden Schmerzen kommen. Im Verlauf der Zeit wird der Schmerz zum Schmerzgedächtnis und gleichzeitig zu einer eigenständigen Erkrankung – dem chronischen Schmerz. Es ist folglich höchst praxisrelevant, die schon sehr früh einsetzenden Chronifizierungsprozesse möglichst schnell aufzuhalten.
Das Schmerzgedächtnis ist nicht löschbar
Um langfristige Erfolge auf dem individuellen Therapiepfad zu erzielen, müssen die Patienten ihr Schmerzgedächtnis „umprogrammieren“, es ist nicht löschbar. Der Ausweg für die Patienten liegt im Erlernen von neuen Strategien. Bisher ist der multimodale Therapieansatz der Königsweg.

Neben eingesetzten Schmerzmitteln kommen anxiolytische und antidepressive Medikamente zum Einsatz und werden mit psycho- und physiotherapeutischen Techniken kombiniert. Zusätzlich werden Entspannungsverfahren, Musik- und Kunsttherapie oder Bewegungsprogramme angeboten. Mit diesem in Deutschland und international anerkannten Therapiekonzept erzielen die meisten Patienten langfristig Besserung ihres Befindens und ihrer Lebensqualität.
Good Medical Practice ergänzt evidenzbasierte Medizin
Cannabis und Cannabinoide spielen einerseits eine immer bedeutendere Rolle in der Versorgung von schwerkranken Schmerz- und Palliativpatienten, andererseits bestehen weit verbreitete Unsicherheiten bei der praktischen Anwendung verschiedener Cannabinoid-Wirkstoffe in der klinischen Praxis. Zweifel und Sorgen im Umgang mit Cannabinoiden aufgrund geringer bis mittlerer Evidenz bestehen vorwiegend in der Ärzteschaft und bei den Kostenträgern. Dies ist vorrangig in den wissenschaftlichen Publikationen zu Cannabis begründet. Dagegen haben Patienten weitaus weniger Bedenken im Umgang mit Cannabis als Medizin. Für viele Betroffene erscheint es unzumutbar, auf große, hochkarätige RCTs (randomisierte kontrollierte Studien) zu warten. Der kurzfristige medizinische Bedarf an wirksamen Add-on-Therapien, bei chronischen Schmerzen oder in der Palliativmedizin ist hoch. So gibt es Patienten, die nicht nur Opioide nicht vertragen, sondern auch Koanalgetika. Diese kommen als Wirkverstärker zum Einsatz und werden manchmal schlecht toleriert. Ungeachtet dessen sind solide Daten zu Cannabinoid-Therapien zukunftsweisend notwendig und erwünscht.
Die gegenwärtige Studienlage zeigt zwar eine schwache bis mäßige Evidenz für den medizinischen Einsatz von Cannabinoiden. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine medizinische Wirkung nicht existiert. Aus schmerzmedizinischer Sicht wird für vorhandene RCTs eine Schmerzreduktion von Cannabispräparaten von 30% gegenüber Placebo gefordert. Es ist bekannt, dass dieser Forderung selbst langjährig eingesetzte Schmerzmedikamente nicht gerecht werden. Allerdings ist gerade bei Tumorpatienten eine 10- oder 20%ige Reduktion des Tumorschmerzes ein beachtlicher Erfolg.

In Studien werden die Cannabinoide teils oral, teils inhalativ eingenommen, die gemessenen Effekte werden häufig direkt miteinander verglichen. Die Aussagekraft solcher Ergebnisse ist relativ schwach und widerspricht oft den beobachteten Erfahrungen in der Praxis. Beobachtete Ergebnisse der „Good Medical Practice“ sind unzweifelhaft ein wichtiger und ergänzender Teil der modernen evidenzbasierten Medizin.
Stellenwert von Cannabis in der Palliativmedizin
Wenn die Heilung einer Erkrankung nicht mehr möglich ist, beispielsweise bei einer Krebserkrankung, steht die Lebensqualität und das Wohlbefinden des Betroffenen im absoluten Fokus. Der Wunsch, die letzte Zeit des Lebens weitestgehend schmerzfrei und mit möglichst geringen Beschwerden zu erleben, ist die Aufgabe der Palliativmedizin. Um den vielfältigen und belastenden Symptomen zu begegnen, sind Cannabinoide häufig zum Mittel der Wahl geworden. Die Zeit ist einfach nicht mehr vorhanden, um mehrere Standarttherapien nacheinander auszuprobieren. Das besonders günstige Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil und die Möglichkeit, mit Cannabis Opioiddosen reduzieren zu können, machen Cannabinoide häufig zum Mittel der ersten Wahl. Ob in der stationären oder in der ambulanten allgemeinen und spezialisierten Palliativversorgung, Cannabispräparate sind bis zur Dosisfindung unproblematisch aufzutitrieren. Generell empfiehlt sich eine einschleichende Dosierung. Das breite Wirkspektrum der Cannabinoide sichert Lebensqualität der Palliativpatienten!
Expertensprechstunde Cannabis mit FAQ
Auf der Wissensplattform Ethypharm Academy ist die Expertensprechstunde Cannabis in kurzer Zeit zum beliebtesten Fortbildungsformat geworden. Ärzte und Apotheker senden vorab ihre Fragen zum Thema Cannabis oder eine Fallbesprechung ein. Die Fragen werden dann im Rahmen der Expertensprechstunde mit Dr. Angelika Hilker, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Anästhesiologie am Katholisches Klinikum Bochum und in eigener Praxis und Dr. Norbert Schürmann, Leiter der Abteilung Schmerztherapie am St. Josef Krankenhaus Moers, als interaktive Fortbildung für Mediziner diskutiert und beantwortet. Dr. Schürmann hat die Vizepräsidentschaft der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) inne. Der folgende FAQ wird die von Ärzten und Apothekern bereits häufig gestellten Fragen mit Expertenwissen beantworten. Wir hoffen, dass Sie durch die praxisnahe Betrachtung der Themen hilfreiche Tipps für den Umgang mit Cannabis als Medizin in Ihrer Praxis oder Apotheke erhalten.
Angelika Hilker und Norbert Schürmann bieten ärztlichen Kollegen explizit Hilfestellung in allen auftretenden Fragen zu Cannabis als Medizin an und bitten um entsprechende Kontaktaufnahme. Herzlichen Dank!
Gender-Disclaimer
Die in diesem Text verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich immer gleichermaßen auf weibliche und männliche Personen. Auf eine Doppelnennung und gegenderte Bezeichnungen wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet.
Quellen
- Russo EB. Taming THC: potential cannabis synergy and phytocannabinoid-terpenoid entourage effects. Br J Pharmacol. 2011 Aug;163(7):1344-64. doi: 10.1111/j.1476-5381.2011.01238.x. PMID: 21749363; PMCID: PMC3165946.
- Abrams DI et al. Cannabinoid-opioid interaction in chronic pain. Clin Pharmacol Ther. 2011 Dec;90(6):844-51. doi: 10.1038/clpt.2011.188. Epub 2011 Nov 2. PMID: 22048225.
- Horlemann J et al. DGS-Praxisleitlinie. Cannabis in der Schmerztherapie. 2018. Version: 1.0 für Fachkreise. www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis
- Gastmeier K, Gastmeier A, Rottmann F et al. Cannabinoide reduzieren den Opioidverbrauch bei älteren Schmerzpatienten. Schmerz (2022). doi:org/10.1007/s00482-022-00642-0.
- BfArM-Abschlussbericht zur Begleiterhebung vom 6.7.2022. https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis-als-Medizin/Begleiterhebung/_node.html
- Moulin D et al. Canadian Pain Society. Pharmacological management of chronic neuropathic pain: revised consensus statement from the Canadian Pain Society. Pain Res Manag. 2014 Nov-Dec;19(6):328-35. doi: 10.1155/2014/754693. PMID: 25479151; PMCID: PMC4273712.